Voigt und das Jahr im Kopf

Voigt und das Jahr im Kopf

Uwe Topper
Berlin, 2006

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Eine Besprechung des Buches von Ulrich Voigt: ‚Das Jahr im Kopf. Kalender und Mnemotechnik‘ (358 Seiten, Likanas-Verlag Hamburg, 2003; ISBN 3-935498-01-2; www.likanas.de).
Jahr im Kopf
Dieses Buch ist außerordentlich heiter geschrieben und spannend zu lesen, was bei dem Thema – der Feststellung von Wochentagen oder Osterdaten – keine leichte Aufgabe gewesen sein kann. Daß sich so ein „trockenes“ Thema zur fesselnden Lektüre entwickeln könnte, würde kaum jemand vermuten. Zuerst hatte ich nur nach den wichtigen Punkten für oder gegen meine Chronologie-Kritik in diesem Buch gesucht, aber bald war ich dermaßen fasziniert von dieser mir fremden Welt der Mnemotechnik, daß ich von Anfang an zu lesen begann. Die Darstellungsweise ist genial einfach, sogar ein mathematisch untalentierter Mensch wie ich kann dem Text stückweise folgen, wenn ich auch nicht bereit war, den vorgeschlagenen Lehrgang mitzumachen.

Das Amüsanteste sind die einzelnen „Garderoben“, kurze Geschichten mit bizarren Ereignissen und Zusammenstellungen, an Hand deren sich der Mnemotechniker die Begriffe geordnet merken kann.

Diese Technik ist nicht neu, aber sie wird hier in fantastischer Weise lebendig. Zur Geschichte der Mnemotechnik hat Ulrich Voigt zwei Jahre früher ein Buch geschrieben, „Esels Welt“ (2001), das viele Vorgänger dieses eigenartigen Herangehens an Gedächtnisleistungen beschreibt; aber auch ohne Kenntnis dieser Vorarbeit ist das Buch, das die Kalenderdaten im Kopf präsentiert, verständlich. Und selbst für den, der die vielen Tafeln nicht durchschaut, wird doch das System als Ganzes durchsichtig.

Vor allem eins wird dem Leser greifbar klar: Unser Kalender und unsere Osterfeier ist nach einem strengen System aufgebaut, das die Naturvorgänge (Sonnenlauf, Mondumlauf) mit bestmöglicher Genauigkeit eingefangen hat und in jeder Rictung, vor- oder rückwärts, funktioniert, wenn man bereit ist, das Ganze als ein ideales Tummelfeld für Gedächtnisakrobatik anzusehen. S. 23 oben sagt Voigt – und hält es im ganzen Buch so – daß er sich vorstelle, es habe den Gregorianischen Kalender immer schon gegeben. Hierin muß man ihm folgen, auch wenn der Historiker dagegenhalten möchte, daß erst Papst Gregor (XIII) diesen Kalender 1582 einführte. Auch auf die Voigtsche Verwendung der Null wird der Historiker zunächst ablehnend reagieren, denn ein Nulljahr in unserer Jahreszählung (AD) gab es bekanntlich nicht. Voigt führt es aber trotzdem ein, denn nur dann funktioniert die Wochentagszählung ordentlich. Das gilt auch für den Jahrhundertbeginn (S. 26), denn „normalerweise“ beginnt das 16. Jh. im Jahr 1501 und reicht bis 1600. Für Mathematiker ist das sehr unpraktisch, sie beginnen mit Null, oder mit 1500. Am Ende springt auch für den historisch Interessierten der Nutzen dieser Vorgehensweise heraus.

Die Berechnungen von Dionysius Exiguus (6. Jh.) und Beda Venerabilis (8. Jh.) sind ohne die Verwendung der Null in genau diesem Sinne nicht möglich! (S. 142 und 152). Und diese Berechnungen liegen nicht nur der Gregorianischen Kalenderreform zugrunde, sondern auch dem berühmten Kalenderstein von Ravenna; er funktioniert nur in dieser Weise.

Dies ist für mich der aufregendste Gedanke von Voigt: Der christlichen Jahreszählung liegt die zyklische Mondrechnung als Konstruktionsform zugrunde, und zwar eindeutig im Sinne des Gregorianischen Kalenders und unter Verwendung der Null als Recheneinheit. Bei den Mondtafeln, etwa dem auch von mir besprochenen Ravenna-Stein (angebl. 6. Jh.), geht es in Wirklichkeit (sagt Voigt S. 112) „um die Jahreszahlen selbst, die ihr Konstruktionsprinzip fast wie einen Fingerabdruck in sich tragen.“

Oder anders gesagt, wie es uns Axel Brätz anläßlich eines Geschichtssalons in Berlin 2005 verständlich machte: Voigt beweist, daß die Ostertafel von Ravenna wie auch die des Dionysius nur dann Sinn macht, wenn man die Gregorianische Reform im Kopf hat. Damit ist die Geschichte besiegelt.

Voigt drückt es kompromißlos aus (S. 126): „Die christliche Ära beginnt, wenn man sie gregorianisch deutet, mit einem idealen Mondmonat.“ Und noch genauer (S. 140): „Das Jahr Null ist das erste Jahr im Mondzyklus.“ Dieses Nulljahr als Idealjahr für die Osterzyklen gab es nur ein einziges Mal! „Die Jahreszahlen sind damit ganz ohne Bezug zu einem menschlichen Ereignis definiert.“ Das führt so weit, daß bei Kenntnis der Daten von Wochentagen und Ostern auch das Jahr erschlossen werden kann! Die Gleichung läuft in beiden Richtungen eindeutig.

Damit entpuppt sich die Anno-Domini-Zählung als Konstrukt der kirchlichen Mathematiker, der Osterkomputisten, wie wir schon lange vermuten, aber nie so schön bewiesen bekamen wie mit diesem ungewöhnlichen Buch.

Ab S. 74 erkannte ich den vor mir so gern als Gegenbeweis benützten „platonischen“ (oder jakobinischen) Rhythmus der Wochentage: 6-5-6-11. Ich habe dabei endlich verstanden, daß für den von Illig geforderten Phantomzeitraum von 297 Jahren (zwischen 31.8.614 und 1.9.911) die Wochentage tatsächlich unterbrochen sind, daß nämlich der platonische Rhythmus einen Sprung gemacht hätte, wenn es einen solchen Einschub gegeben hätte (siehe mein gesonderter Beitrag: „Eingeständnis“). Damit wird diese Phantomzeitthese zunichte. Darüber verliert Voigt kein Wort in diesem Buch, obgleich er diesen Gedanken gegen Illig seit 1996 immer wieder äußerte. Er erwähnt Illig hier nur ein einziges Mal (S. 142), in Zusammenhang mit der Einführung der Null in Europa, die nach allgemeiner Ansicht sehr spät erfolgte.

Mit Voigts Entdeckung wird jede These von einem nachträglichen Einschub unmöglich, seien es 190 oder 300 oder 532 oder tausend Jahre – die Gesamtheit der christlichen Jahreszahlen vor Kusanus ist konstruiert, und zwar ein einziges Mal. Hätte man eine christliche Jahreszählung mit irgendeiner parallelen Zeitrechnung (z.B. der Era) gepaart, dann wäre diese Zeitrechnung unser Anhaltspunkt für die Geschichte. Daß es eine solche Zeitrechnung nicht gibt, hatten wir in dem vergangenen Jahrzehnt mühsam aber deutlich einsehen müssen.
So bringt das Buch mit einem Donnerschlag endlich den Durchbruch in der langen Erforschung des christlichen Kalenders, eigentlich eher als Zugabe zu einer bewundernswerten Einführung in die Mnemotechnik. Diese entzückende Fantasie gepaart mit schärfster Mathematik haben wir einem promovierten Gymnasiallehrer aus Hamburg (Jahrgang 1941) zu verdanken, der – fast hätte man es voraussagen können – gerade diese beiden Fächer unterrichtete: Geschichte und Mathematik. Er hält als Gedächtnissportler einen Weltrekord und einen nationalen Rekord. Schon 1975 trat er mit einem Buch über „David Hume und das Problem der Geschichte“ (Berlin) hervor (dem Rezensenten noch nicht bekannt).

Nachzutragen wäre noch, daß die hübschen Zeichnungen von Simon Waßermann stammen, der Text fast fehlerfrei (!) auf gutem Papier gedruckt ist; ein Literaturverzeichnis und ein Stichwortregister sowie zwei Abbildungen des Ravennasteines bestätigen den wissenschaftlichen Charakter des Werkes. Voigts Buch ist einzig in seiner Art in der Literatur und bringt viele Anregungen zu Themen, die mit der Geschichtskritik zusammenhängen.

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