Homers Heimat

Homers Heimat

Buchbesprechung
Schrott, Raoul: „Homers Heimat“ (Carl Hanser Verlag München 2008) 431 S. mit zahlreichen Karten und 92 Abbildungen
Uwe Topper
Berlin · 2008

Was ist nicht alles über Homer und seine beiden Epen Ilias und Odyssee geschrieben worden! Schon wenige Jahrhunderte nach ihm begann die massive Auswertung und das Deutespiel. Das Rätselraten ist bis heute nicht abgebrochen, denn noch immer wissen wir nicht, wo Troia lag, um das zehn Jahre lang so heftig gekämpft wurde.

Da gab es so weit hergeholte Orte und Ideen wie diese: Die 45 Heeresformationen der Griechen vor Troia könnten den 45 Sternbildern im Katalog des Aratos entsprechen, den berühmten Phaenomena von „270 v.Ztr.“, bekannt und nachgeahmt in der ganzen Antike und im Mittelalter. Das hatte Edna Johnston Leigh in einem Buch vor etwa siebzig Jahren vorgeschlagen. Jeder Soldat stehe für einen Stern, schrieb sie. Die Ilias zeigte demnach die Veränderung des Sternhimmels durch einen Sternenkrieg an, wobei natürlich mit Jahrtausenden nicht gespart wurde. Nur daß Aratos ein halbes Jahrtausend nach Homer lebte, spielte wohl keine Rolle.

Oder Troia lag in der Ostsee, wie uns Felice Vinci unlängst erklärte (Omero nel Baltico).

Daß Troia nicht Hisarlik an den Dardanellen sein kann, hatten zwar alle engeren Fachleute schon vermutet, aber gegen Schliemann ist kein Kraut gewachsen. Oder doch? Jetzt kommt Raoul Schrott und sagt uns mit großer Sachkenntnis, wo wir Troia finden werden: Am Südrand des Taurusgebirges, im alten Kilikien. Der Schwarze Hügel (Karatepe) liegt unweit der Turistenhochburg Adana und der Nato-Kommandozentrale im südlichen Anatolien.

Das ist tatsächlich geopolitisch eine ideale Gegend: im östlichen Zipfel des Mittelmeers, geschützt durch Zypern im Süden und nahe genug am Libanon, dem Zentrum des Reichtums seit undenklicher Zeit. Hier, wo Hethiter wie auch Assyrer immer wieder mal einen Freiraum stehen ließen, hat sich der vermutlich mehrsprachige Sänger Homer ein politisch bewußtes und motiviertes Publikum gesucht, das seine Anspielungen auf die Tagespolitik ebenso schmunzelnd verstand wie die zahlreichen Übernahmen gemeinorientalischer Mythenzitate, die das Riesenepos Ilias so hochkulturell wie kunstsinnig erscheinen lassen.
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Der Reihe nach: Von allen Troia-Entdeckern ist Raoul Schrott der am meisten mit Sprach- und Mythenkenntnissen gesegnete, fast so erbarmungslos gebildet wie unsere Vorfahren im 19. Jh., und das will etwas heißen heutzutage! Seine auf dem Klappentext kurz angedeutete Vita läßt geheimnisvolle Wege vermuten: 1964 geboren und in Tunis und Landeck (Österreich) aufgewachsen, lebt er heute in Irland.
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Als Dr. phil. habil. hat er einen Lehrauftrag in Innsbruck, seine Bücherliste umfaßt Kunstgeschichte (dada), Poesie und Keilschrifttexte (Gilgamesch). In elegantem Stil versteht er es, seine Leser behutsam ans Thema heranzuführen und sein Wissen häppchenweise an den Mann zu bringen. Und da wir Gilgamesch als zweitschönstes Epos ebenfalls gut kennen, häuft er Vergleiche und Paralleln damit zu einem babylonischen Turm auf, ergänzt mit Bibelversen, assyrischen Annalen und einigen weniger bekannten Kultliedern, und klärt hieb- und stichfest die Frage nach den Ursprüngen: Homer war – wenn nicht unbedingt genetisch, so doch zumindest in Sachen Bildung – von zwei Erbteilen belastet: dem uns vertrauten Hellenentum und dem semitischen Keilschriftreservoir, wobei die Entsprechungen zwischen den beiden Göttermannschaften aufeinanderprallen, als wären sie wie Ballspieler austauschbar.

Geschult an der heutigen Multi-Kulti-Woge nimmt es der Leser lächelnd an, denn das kennen wir ja! Warum sollte es im Altertum nicht ähnlich gemischt zugegangen sein wie im heutigen München oder Berlin?

Um nicht mißverstanden zu werden: Nach den Regeln der Philologie und Altertumswissenschaft sind Schrotts Argumente durchaus nachvollziehbar. Wenn das Ganze dennoch lächerlich wirkt, dann darum, weil diese alten Regeln eben heute nicht mehr so ernst zu nehmen sind wie vor dem Ersten Weltkrieg. Gerade dieVielseitigkeit der Deutungen, die Homers Epen sich gefallen lassen mußten, zeugen eben dafür, daß die akademischen Spielregeln keine wirkliche Handhabe sind.

In Sachen Sprache ist sich Schrott auch völlig klar darüber, daß hier bisher ungeahnte Fallen lauern. Die zahlreichen Wiederholungen (er nennt sie „idente Textpassagen“) lassen den Schluß zu, daß es sich bei dem Epos um eine schriftliche Fassung handelt, keineswegs um mündlich weitergegebenes und nur für Zuhörer verfaßtes Liedgut. Es ist schlichtweg Schriftliteratur, und so dürfen wir auch ausgiebig schriftliche Zitate aufstöbern.

Allerdings gibt es da auch eine gewisse Sprach-Ökonomie (Mc-Geiz in der Dichtung): „die 115.000 Wörter seiner Ilias sind reduzierbar auf einen Grundwortschatz von etwa 6.000 Vokabeln.“ (S. 106). Nanu? Der klassischste aller Sänger hatte nicht viel mehr Sprachumfang zu bieten als – sagen wir mal vergleichsweise – ein Arbeiterdichter? Hier stimmt doch etwas nicht, sagt sich der Geschichtsanalytiker in seinem nie mehr einschläferbaren Hinterkopf.

Das klingt doch so verdächtig nach Cäsars „Gallischem Krieg“, den Baldauf 1903 gerade wegen dieser Spracharmut als frühes Renaissance-Werk erkannte; oder nach dem ebenfalls sehr mageren Tacitus, den Hochart 1890 als Produkt des noch nicht sehr lateinkundigen 15. Jh.s entlarvt hat.

Es wird schlimmer: „Zweitausend Wörter (sogenannte hapax legomena) kommen nur bei ihm vor.“ (ebendort). Ein Drittel des gesamten Wortschatzes ist erfunden, zumindest soweit es unsere Kenntnis der griechischen Sprache angeht. Für eine Pionierarbeit gehören Neuschöpfungen wohl dazu (Schrott spart ja auch nicht damit), aber in dieser riesigen Menge? Tritt da nicht eher das Bedürfnis zutage, eine Sprache künstlich zu erzeugen?

Nun gut, daß das klassische Griechisch vermutlich nie gesprochen wurde (bei Latein, Sanskrit oder Arabisch war es nicht anders), gehört nicht zu den neuesten Erkenntnissen.
Solche Spracherzeugnisse sind darauf angelegt, möglichst vielseitig verstanden zu werden, „nicht treffend, punktuell und beschreibend“, wie Schrott erklärt. Also mißverstanden zu werden.

Fest steht nun nach all den Untersuchungen, daß der Text der Ilias ein einziges Mal verfaßt wurde, schriftlich weitergegeben und mit geringsten Varianten über die letzten „2800 Jahre“ (oder auch nur 2700, wie Schrott vorschlägt) peinlich genau erhalten blieb. Wer sich das außerhalb der Kultur des gedruckten Buches vorstellt, muß fantasievoll argumentieren können.

Entgegen der üblichen Annahme, daß die Vorstellungswelt Homers „das Produkt einer jahrhundertelangen bronzezeitlichen Synthese sein“ müßte, bringt Schrott (S. 133) den Gedanken vor, daß sich wie im neuzeitlichen Schmelztiegel Amerika auch im damaligen Kilikien in wenigen Generationen eine solche Vermischung und Neubildung ereignet haben könnte, die das teils wirre, teils amüsante Gemisch an Mythen und Sprachbildern der Ilias zustandebrachte. Glauben wir ihm das doch nur zu gerne, bis auf den großen Zeitabstand von fast drei Jahrtausenden, den er nur um ein einziges Jahrhundert verringert.

Denn in der Ilias spielt sich noch mehr ab als nur ein Potpourri an Mythenfetzen: Die Helden werden göttlich, die Götter werden lächerlich. Wir kennen das schon von den germanischen Göttern im Saxo Grammaticus – sie werden zu Bühnenfiguren mit karnevalistischen Posen. Und die ältesten Vorlagen des Saxo sind – das wird immer sichtbarer – im 16. Jh. geschrieben. Damals paßte das Buch ins Kulturgedränge. Die Ilias dürfte älter sein, aber sie müßte, eben wegen dieser Verächtlichmachung der Mythen und der Erniedrigung der Götter auf menschliche Ebene, in eine Dekadenzzeit mit aufklärerischem Beweggrund gehören. Da fällt mir nur die Renaissance ein.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei Schrott: Es liegt ein Mißverständnis älterer Götterattribute und Namen vor, erklärt er an Beispielen. Der Dichter übernimmt religiöse Motive, „ohne recht zu verstehen, was damit im Grunde gemeint ist“ (S. 134). Wirklich? Jahrhunderte vor den griechischen Philosophenschulen, die sich bemühten, den Götteraberglauben zu überwinden?

Da stell ich mir die frühe Eisenzeit (bzw. „späte Bronzezeit“) doch etwas kerniger vor. Aber der Dichter wollte diese Zeit gar nicht wiedergeben. Sein Abstand zu den alten Göttern war viel zu groß, wie aus allen seinen Äußerungen über die Götter erkennbar wird. Sie sind Staffage auf einer Bühne, auf der nur noch Helden agieren. Insofern wird hier Historikerarbeit geleistet von einem blinden Sänger der Bronzezeit.

„Gerade die Sagen, Ursprungslegenden und Stammbäume, die den Handlungsrahmen immer wieder sprengen, zeigen dabei weniger einen Erzähler als einen Protohistoriker am Werk, der bemüht ist, griechische Geschichte möglichst umfassend zu dokumentieren. Dabei entwickelt er einen fast schon archäologisch zu nennenden Blick – so etwa, wenn er Ruinen und Denkmäler als Zeugnisse längst vergangener Zeiten herausstreicht.“ (S. 160, mit Textbeispielen). Wenn das nicht Renaissance ist, was dann?

Schrott führt das an vielen Stellen weiter aus, z.B. S. 332, wo es heißt, daß Homer „sich des Gilgamesch als Folie bediente“ und Wissen einbrachte, „von der Protohistorie und Protogeographie des griechischen wie des späthethitischen Umfeldes,“ wobei der Begriff „späthethitisch“ hier nur der verkorksten Chronologie geschuldet ist, hethitisch würde vollauf reichen. Mit Jahrtausenden spart Schrott wirklich nicht, etwa bei den quadratischen Gleichungen – „eine Technik, mit der sie (die Mesopotamier) Euklid um Jahrtausende vorauswaren.“ (S. 166). Jahrhunderte wären schon ausreichend gewesen, um uns in Staunen zu versetzen. Oder so: Die Ilias ist der „Versuch, den jahrtausendealten Traditionen des mesopotamischen Raumes die eigenen überlieferten Mythen entgegenzusetzen.“ (S. 175). Da verkalkuliert sich der sonst so belesene Philologe.

Gegen Ende wird Schrott (S. 333 f) geradezu analytisch: „Die Motivation für die Abfassung eines derart enzyklopädischen Werkes ist dabei mit der von Berossos im 3. Jahrhundert zu vergleichen – der in vielem wie ein Doppelgänger Homers scheint. … Wie Homer kompilierte auch er eine Vielzahl von einheimischen und fremden Mythen,“ ja, dieser Berossos, der sich „letztlich für die Assimilation in einer Fremdkultur entschied“, nämlich im Ausland niederließ. Das klingt herrlich modern, aber leider wissen wir nun schon seit den Aufklärern der Renaissance, daß der Berossos um 1500 erfunden worden ist. Und wenn Homers Verse damit so viel gemeinsam haben, daß Schrott von Doppelgängern spricht – au je, so scharf hätte ich das nie gesagt. „Und so wie Homer darauf nur mehr als Sagengestalt greifbar war, rankten sich auch um ihn (Berossos) bald Legenden, die ihn zum Erfinder der Sonnenuhr werden ließen, ihm eine Sybille als Tochter zuschrieben und ihn zum Propheten machten, dem in Athen eine Statue aufgestellt wurde. Als Vermittlerfigur blieb er dabei nicht der einzige: zur selben Zeit bereitete auch der ägyptische Priester Manetho … die Geschichte seines Landes auf – und Josephus Flavius tat mit seinen Jüdischen Altertümern später das gleiche.“ Da haben wir sie ja alle beisammen, die Geschichtsaufbereiter, die Nanni von Viterbo und seine Kollegen vor fünfhundert Jahren aus dem Zauberhut holten. Heute weiß man recht gut, daß diese Texte sehr spät zusammengestellt wurden, wenn man auch die angeblichen Autoren selbst als historische Gestalten in ihrem geschichtlichen Umfeld beläßt.

Und das soll nicht durchschaubar sein?

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