Eine neue Geschichtsschreibung

Eine neue Geschichtsschreibung

Uwe Topper
Berlin, o. J.

Archäologie
Vorbemerkung:

Der vorliegende Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich etwa 1998 vor Leuten hielt, die erstmals in die neue Materie der Chronologiekritik eingeführt werden wollten. Obglerich im Literaturverzeichnis auch meine Bücher bis 2003 aufgeführt sind, ist der Inhalt doch nicht auf den neuesten Stand gebracht. Einige Aussagen über das Alter der ersten christlichen Schriften (als Beispiel) sind inzwischen überholt. Als Einführung generell ist der Text immer noch geeignet.

Mai 2012

In der Schule lernten wir, daß der Zeitraum, der durch zeitgenössische schriftliche Äußerungen bekannt ist, als Geschichte bezeichnet wird, und jener davorliegende Zeitraum, wo Schriftdokumente fehlen, als vorgeschichtliche Zeit. Das europäische Mittelalter zählt schulgemäß zur geschichtlichen Zeit, denn es ist durch Münzen, Dokumente und Inschriften reichlich belegt. Auch die Zeit vor dem Mittelalter, die klassische Antike, ist geschichtlicher Bereich, ebenso wie das alte Ägypten, Babylonien, Indien und China.

Als vorgeschichtlich gelten Kulturen wie z.B. die nordische Bronzezeit oder unsere eigene Großsteinzeit. Diese müssen wir mit Hilfe archäologischer Techniken, etwa Ausgrabungen, rekonstruieren. Wir wissen nicht mehr, was sich damals bei uns abgespielt hat und können nur unter großem Aufwand ahnende Einblicke gewinnen.

Kulturen, die mit Erdschichten zugedeckt sind, können zumindest relativ zeitlich eingeordnet werden – also das Vorher und Nachher betreffend – ; offen zutage liegende Reste wie Straßen, Ruinen oder Abdrücke sind schwer einzuordnen und gelten meist als jung. Ich erwähne diesen Punkt, weil ich mich seit Jahrzehnten mit den europäischen Gleisestraßen beschäftige, die angesehene Archäologen lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Mein heutiges Thema betrifft jedoch das Mittelalter.

Archäologie gilt nur als Hilfswissenschaft neben die geschichtlichen Dokumente und ergänzt diese. Das allein ist schon skandalwürdig, da die geschichtlichen Dokumente fast durchgehend gefälscht sind. Die Archäologie könnte Klärung bringen, wird aber in diesem Zeitraum des Mittelalters nur als zusätzliche Kraft, als Hilfswissenschaft, anerkannt.

Das Mittelalter
Anfang und Ende des Mittelalters liegen natürlich nicht jahrgenau fest. Die Geschichtswissenschaftler haben sich grob geeinigt: Mit der Besiegung der Hunnen auf den Katalaunischen Gefielden 451 beginnt das Mittelalter, mit der Erfindung des Buchdrucks 1450 endet es. Wir haben also ein glattes Jahrtausend mittelalterlicher Geschichte, die angeblich keineswegs mühsam entdeckt und rekonstruiert werden müßte, sondern durch Chroniken und Diplome (das sind gerichtlich gültige Dokumente) in ungeheuer großer Zahl bekannt sei.

Wer dieses Schema in Frage stellt und ihm den Boden entzieht, bereitet eine Revolution in der Geschichtswissenschaft vor und wirft alles um, was bisher als felsenfest gegolten hat, zusätzlich auch noch die Zeitrechnung, die als Gerüst den Bau gestützt hat. In meinem Vortrag geht es um genau diesen Punkt. Ich werde versuchen, in wenigen Worten etwas darzustellen, was Ihr gesamtes Weltbild verändem kann.

Geschichtsforscher wie der Spanier Antonio, der Franzose Hardouin, der Schweizer Baldauf und der Deutsche Kammeier haben festgestellt, daß die gesamte Geschichte des Mittelalters eine Erfindung ist. Praktisch alle Dokumente jenes Zeitraums sind später erst hergestellt worden, sei es als sogenannte Abschriften oder direkt als Fälschungen. Wir besitzen keine Originalhandschriften von irgendeinem Dokument oder literarischen Werk vor dem 12. Jahrhundert. Für die letzten drei Jahrhunderte, also das 12. bis 14. Jh., das sogenannte Hochmittelalter, haben wir nur bedingt vertrauenswürdige Texte in der Hand. Erst mit dem Beginn des Buchdrucks um 1450 haben wir Schriften, deren Datierung, zweifelsfrei ist. Für die Zeit der Karolinger liegen überhaupt keine Dokumente vor – und das betrifft auch die archäologischen Funde.

Unsere Kenntnis der europäischen Geschichte vom Ausgang der Antike bis zur Zeit der Stauferkaiser ist ein wunderschöner oder auch häßlicher Roman wie irgeindeine Heiligenlegende: reine Glaubenssache und völlig unwissenschaftlich. Immer wieder haben Historiker einzelne Fälschungen aufgedeckt, doch der Blick, auf das ganze Ausmaß der Verschleierung und Neuschöpfung unseres Geschichtsbildes ist erst in jüngster Zeit möglich geworden. Der Begriff „Große Aktion“, den Wilhelm Kammeier vor 70 Jahren geprägt hat, umchreibt diesen jahrhundertelangen Fälschungsvorgang.

Die Erkenntnis, daß die mittelalterliche und klassische Geschichte recht junge Erfindungen sind, ist also keineswegs neu. Die Zeitgenossen der Fälscher selbst, vor allem einige Humanisten, regten sich über die Fälschungen ihrer Kollegen auf und prangerten die Fehler an. Abt Trittheim und Celtes beschuldigten sich gegenseitig und hatten beide Recht darin: die von ihnen vorgelegten angeblich antiken Texte entstammten ihren eigenen Fedem.

Auch in den folgenden Jahrhunderten, vor allem in der Aufklärung und dann wieder in der beginnenden Wissenschaftlichkeit des 19. Jahrhunderts wurden die Fälschungen von vielen Gelehrten durchschaut und teilweise mit Skandalgeschrei aussortiert. Nur wenige Theologen gingen jedoch so weit wie Jean Hardouin, der französische Jesuit: Er stufte praktisch alle Werke der Klassik und der frühen Kirche als junge Erfindungen ein, wobei er sich auf Münzen, Inschriften und die wenigen übriggebliebenen Originalwerke (wie z.B. die Dichtung des Vergil) stützte. Obgleich man ihn nicht widerlegen konnte, nahm man seine Schlußfolgerungen nicht generell an, sondem wartete bis zu seinem Tod, um im alten Trott fortzufahren. Da aber die großen Chronologieforscher wie Scaliger und Pettau und der berühmte Isaac Newton selbst jene völlig unzuverlässigen Zeittafeln ausgedacht hatten, die seitdem mit wenigen Abstrichen bis heute in den Schulen und Universitäten gelehrt werden, besteht kaum Hoffnung, die Geschichte noch einmal unter unbefangenem Gesichtspunkt neu zu schreiben.

In unserem eigenen Sprachbereich sind als kritische Wissenschaftler vor allem Aschbach zu nennen, der im 19. Jh. die Roswitha von Gandersheim und ähnliche Machwerke enttarnte; dann Robert Baldauf, der Anfang dieses Jahrhunderts die Klassiker als Mönchsarbeit aufdeckte, und schließlich Wilhelm Kammeier, gestorben in den fünfziger Jahren in Thüringen, der die Entstehung des Christentums in neuem Lichte beschrieb. Seine genialen Bücher wurden auch in den letzten Jahren wieder aufgelegt und von den Chronologiekritikem mit Erfolg verarbeitet. Aber bis zur Anerkennung durch die Dogmatiker wird noch ein weiter Weg zu gehen sein. An unseren heutigen angeblich vorurteilsfreien Akademien ist Kammeier jedenfalls tabu. Nicht Wahrheitsliebe sondem Machtverhältnisse bestimmen über die Richtigkeit einer wissenschaftlichen These.

Die fünf Thesen
Wenn ich eimnal in aller Knappheit die Ergebnisse der kritischen Forschung der deutschen Philologen zusammenfassen und mit meinen eigenen Entdeckungen – vor allem im spanischsprachigen Bereich – vereine, sind folgende fünf Punkte hervorzuheben:

1. Die Bibelhandschriften sind sehr spät hergestellt worden als Abschriften einer einzigen Vorlage, vermutlich erst vor etwa tausend oder höchstens elfhundert Jahren. Die Schriften der sogenannten Kirchenväter sind nicht älter, sondern teilweise erst im 12. und 13. Jahrhundert angefangen, beendet erst in der Renaissance. Auch die Schriftrollen von Qumran und die masoretische Thora sind höchstens tausend Jahre alt.

2. Praktisch das gesamte Schriftgut der klassischen Antike ist erst ab dem 11. Jh. verfaßt worden, das griechische in Konstantinopel am Kaiserhof und in Apulien und der Toskana durch griechische Flüchtlinge, das lateinische in mitteleuropäischen Klöstem, vor allem in Nordfrankreich, in Hessen und in Mittelitalien (z. B. Monte Cassino).

3. In der Renaissance wurde eine große Zahl von Chroniken gefälscht und dermaßen klug in die Geschichtsschreibung eingefügt, daß sie heute nicht mehr daraus zu lösen sind, ohne daß das gesamte Geschichtsbild abstürzt. Ich nenne hier nur die Werke des Tacitus („Germania“ und „Agricola“) oder die Chroniken der Roswitha von Gandersheim als krasseste Beispiele. Die „Germania“ wurde um 1420 in Hersfeld oder Fulda im Auftrag von Poggio Bracciolini für den Vatikan geschrieben und durch Nikolaus Cusanus eigenhändig nach Rom verkauft. Die „Roswitha..“ ist ein um 1500 verfaßter Geschichtsroman des auch sonst als Fälscher bekannten Celtes und seiner rheinischen Freunde, die sich Pirkheimers Tochter zum Vorbild nahmen und eine kurz vorher entstandene Novelle benützten. Weitere notorische Beispiele wären der „Goldene Esel“ des Apuleius, der aus dem 15. Jh. stammt, oder die „Selbstbekenntnisse“ des Marc Aurel, die von mehreren Humanisten mit folgerichtiger Entwicklung im 16. Jahrhundert geschrieben wurden.

4. Auch die frühen Chroniken der Kirchengeschichte, auf denen unsere Vorstellung von der Antike beruht, etwa die Texte eines Euseb oder des Berosius, die ja als Grundlage für unsere Datierung der ägyptischen und mesopotamischen Kulturen dient, sind erst von Humanisten erdacht worden.

5. Schrittweise mit dem Entstehen des antiken und frühchristlichen Schriftgutes wurde eine Zeitrechnung erarbeitet, die immer größere Zeiträume umspannte. Die Jahrhunderte wurden wie Gummibänder gedehnt und immer länger. Die Herausbildung des Christentums, die vor höchstens einem Jahrtausend anzusetzen wäre, wurde um ein Ganzes Jahrtausend zurückversetzt, Moses bekam noch ein Jahrtausend dazu und der völlig erfundene Abraham ein weiteres Jahrtausend. Dieser Erzvater liegt nun nach gängiger Anschauung rund 4000 Jahre vor heute, obgleich selbst die Theologen zumindest soweit nachgeben, daß diese Gestalt erst nach dem sogenannten babylonischen Exil, wahrscheinlich erst in den Makkabäerkriegen geschaffen wurde. Da an der Abrahamdatierung auch die Datierung der mesopotamischen und ägyptischen Kultur angeschlossen wurde und an diesen wiederum weitere Kulturen (wie z.B. die minoische oder die indische), haben sie alle ein entsprechend hohes und völlig falsches Alter erhalten.

Eine kleine Gruppe von Geschichtsrekonstrukteuren ist nun dabei, ein völlig neues Geschichtsbild zu entwerfen; dieser Vorgang kommt einer Revolution im wissenschaftstheoretischen Sinne gleich.

Quellenkritik
Begonnen hatte es schon mit der literarischen Quellenkritik vor mehr als hundert Jahren, die uns ein neues Verhältnis zur Überlieferung bescherte.

Wie groß die Umgestaltung unseres Weltbildes durch die Kritik an den Quellen wurde, sagt Bernheim 1912 (S.75), ich zitiere: das „kann man sich am besten veranschaulichen, wenn man ein älteres gutes Handbuch der Geschichte mit einem guten neuen vergleicht. Da sieht man z. B. in den Genealogischen Tabellen von Johann Hübner, die 1708 erschienen sind und lange ein sehr angesehenes Handbuch waren, als Vorgänger des Frankenherrschers Chlodwig 1 aufgeführt eine gewaltige Menge ‚Könige der Sikambrer, Könige der Westfranken und Herzöge der Ostfranken‘, alle mit genauer Angabe der Regierungsjahre und genealogischen Verhältnisse; und von allen diesen mehr als 60 Herrschern hat kein einziger überhaupt existiert, diese sämtlichen Daten sind durch die neuere Kritik mit Sicherheit als das allmählich erwachsene Produkt teils sagenhafter, teils gelehrter Erfindung nachgewiesen und sind selbst aus den bescheidensten Handbüchem verbannt worden.“ Zitat Ende. Dem möchte ich nur hinzufügen, daß auch Chlodwig bald auf diesem Weg seinen Vorgängern in die Versenkung literarischer Romane folgen wird.

Wie meistens im Fall eines Paradigmenwechsels – und als solcher muß die augenblickliche Entwicklung der Geschichtsforschung bezeichnet werden – ist die philosophische Grundvoraussetzung dazu schon vor mehr als einer Generation gelegt worden. Ich möchte hier kurz auf das Werk von Friedrich Gundolf (eigtl. Gundelfinger, 1880-1931) hinweisen, das durch Ulrich Raulff (1992) neuerdings wieder zu Ehren gebracht wurde.
Gundolf, der zeitweilig zum Stefan-George-Kreis gehörte und dessen zentrales Thema die Leitfigur Cäsar und deren Rezeption im Laufe der europäischen Geschichte war, hat seinen Überblick über die deutsche Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann leider nicht ausarbeiten können; das Fragment (postum durch Wind 1938 in Amsterdam herausgegeben, neu durch Raulff 1992) gibt aber doch einen Einblick in diese – für seine Zeit gewiß überraschend neue – Denkweise.

Seine Dissertation – ich zitiere nach Raulffs Nachwort (1992-. S. 120) – “ ‚Cäsar in der deutschen Litteratur‘ spürt das Gedächtnis der Antike in einem allmählich erst werdenden, aus losen Fäden sich knüpfenden Gedächtnistext auf, aus dem sich später die zwei bedeutendsten nationalen Diskurse, die Literatur und die Historie, allmählich herausdifferenzieren werden.“ Zitat Ende. Gundolf legt an die deutsche Geschichtsschreibung nicht den Maßstab der „Tatengeschichte“ an (das wäre illusorisch), sondem die Kriterien der Literaturgeschichte. Damit dringt er in den Keim des Geschichtsbewußtseins der Deutschen vor.

Insofem ist die Historiographie der eigentliche Hersteller der Geschichte und damit in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang der Verursacher der Geschichte. Zusammengefaßt: Geschichte ist nicht Niederschrift geschehener Taten, sondem Widerhall des Eindrucks, den einige Taten hinterlassen haben.

Gundolf verstand seine Arbeit keineswegs als nörgelnde Kritik an der Arbeit vergangener Jahrhunderte. Skepsis oder Umsturz waren nicht seine Beweggründe. „Gegenaufklärerische Aufklärung“ nennt Raulff diesen Standpunkt (S. 136). So besteht für Gundolf die Geschichtsschreibung nicht im Erforschen und Bewahren, sondem in der Auswahl und Neuschöpfung! Die Helden sind geschichtlich wahr, sagt Gundolf, „weil sie nach tausend jahren sind, nicht weil sie vor tausend jahren waren.“ (1912; zit. in Raulff 122).

Ruhmrede ist ein Schlüsselbegriff für Gundolf, er begreift sie als das Motiv aller Geschichtsschreibung. Das gemahnt mich an Ulrich von Hutten, der die Totenklage für den großen Cherusker als Aufruf zur Befreiung von Rom verfaßte. Im engeren Sinne ist es also ein religiöses Motiv, stellt Gundolf in seiner an der Edda geschulten Sichtweise fest. („Eins weiß ich, das ewig währt: der Toten Tatenruhm“). Oder wie die Romantiker glaubten: „Aber was bleibet, schaffen die Dichter.“ Darum nennt Gundolf den wahren historischen Sinn „Divination“ (1921, S. 49; zit. in Raulff 123).

Im Grunde ist dies eine Flucht nach vorn. Man hatte sehr wohl gemerkt, wie brüchig das Eis der Überlieferung ist. Durch immer schärfer angesetzte Kritik war man an einen Punkt gelangt, wo sich die Historie selbst in Nichts auflöste. So wie sich aus der theologischen Zerlegung der Schriften des Neuen Testaments ergeben hatte, daß dieser Jesus nicht gelebt haben konnte, so würden auch alle anderen Gestalten sich wie Nebel auflösen, Cäsar und Alexander so gut wie Sesostris und Darius. Dagegen half nur der Sturm nach vorn: gläubige Bejahung der eigenen Geschichtsvorstellungen zum Zweck der Weitergabe einer Ordnung, die dem Gemeinschaftsgefüge den Halt gibt. Zwar wird die Vergangenheit damit zur Illusion, aber die Gegenwart der Geschichtsbilder wird zur unanfechtbaren Wirklichkeit. Dieses von Stefan Georges Weltschau inspirierte Ergebnis birgt schon die Grundlage für alle Forderungen der neueren Chronologiekritik.

Das hat nichts mit einer Relativierung der Exaktheit der Geschichtsschreibung zu tun: alles sei ohnehin individuell gesehen, fehlerbehaftet, ideologieverzerrt oder durch Unwissenheit entstellt. Gundolfs absoluter und durchaus neuer Anspruch kehrt die Historie um in ihr wirkliches Muster: Die Vorbilder wie Cäsar, Alexander oder Karl der Große werden erst von Historikern geschaffen und damit zu wirklichen Heldengestalten.

In diesem Sinne sagte ich in meinem Buch „Die Große Aktion“ im Vorwort (S. 9), daß ich nicht vorhabe, die Helden vom Sockel zu stürzen. Chronologiekritik ist kein Bildersturm, sondem ein überaus schwieriger Schöpfungsakt. Das Weltbild, das in dieser Phase neu entworfen wird, bestimmt auch in Zukunft unser Handeln.

Die Generation der Geschichtsforscher vor dem Ersten Weltkrieg äußerte sich als eine stürmische Bejahung der Phantasie und Phantasterei in der Geschichtsschreibung, die manchem heute als boshafte Fälschungsmethode erscheinen mag, damals aber mit dem Elan und dem Pathos der für das Vaterland glühenden Geister ihre Berechtigung hatte. Hierin leuchtet noch etwas vom dem Mut und der Genialität der Humanisten nach. Jakob Burckhardt drückte es ähnlich aus: Gesinnung, nicht Meinung, ist das Grundprinzip der Geschichtsschreibung..

So kann es auch für uns heute nicht darum gehen, den vergoldeten Überzug der alten lkonen abzufeilen, um die darunterliegende „echte“ Gestalt des historischen Holzes freizulegen, sondern die einzelnen Phantasien als Teil der gesamten Geschichtsschau zu erkennen, als kollektives Bewußtsein, das geschichtlich gewachsen und allmählich zum universellen Bewußtsein geworden ist.

Die Große Aktion
Mit Kammeier habe ich diesen Vorgang der bewußten Herstellung der Geschichte als „Große Aktion“ bezeichnet, weil tatsächlich eine umfassende Aktivität einer großen Gruppe von Schreibern erforderlich war, um unser heutiges Geschichtsbild zu erzeugen. Darnit ist keine negative Kritik verbunden – ich muß es wiederholen – auch keine Bitterkeit gegenüber dem machtigen Gegner, der katholischen Kirche und ihren gewissenlosen Dienern, sondern eine Feststellung, die wissenschaftlicherseits bekannt und teilweise auch anerkannt ist. Nach dieser Erkenntnis fragt es sich, welche Schlüsse wir daraus ziehen können.

Die erste Frage, die ich mir stelle, ist die nach den Beweggründen: Was hat denn die Kirche und die Mönchsorden bewegt, als sie die „Große Aktion“ in die Wege leiteten. Sie haben ja ganz unglaubliche Geschichten über die Entstehung des Christenturms erfunden.

Analysiert man z.B. die MärtyrerLegenden, dann finden sich ein ganzes Bündel wichtiger Motive für deren Erfindung. Denken wir zum Beispiel an die elftausend christlichen Jungfrauen, die von den bösen Heiden in Köln – ebenso wie in Breslau und Norditalien – verbrannt worden waren und heute in Form von elf Flammen im Kölner Stadtwappen verewigt sind, so merken wir an dieser wie auch an den meisten anderen Kirchenlegenden, welche Motive hinter diesem offensichtlichen Unsinn der christlichen Märtyrergeschichte hervorscheinen. Ich sehe einrnal davon ab, daß die Zahl elftausend einen mythischen oder kalendarischen Hintergrund haben kann und nehme die Legenden so, wie sie in den Büchern stehen: als Geschichtsereignisse.

Beweggründe der Fälschung
Als Beweggründe habe ich herausgestellt:

1. Wenn so viele Menschen für den Glauben ihr Leben hingaben, dann muß dieser Glaube stark und wertvoll sein. Es adelt eine Religion, wenn sich die Anhänger für sie in den Tod stürzen. Nur für ethisch hochstehende Ideale läßt man sein Leben freiwillig: früher für die Freiheit – wie die Keltiberer – später für die Sippe und den Stamm, für Volk und Vaterland. Für eine Überzeugung zu sterben ist relativ neu, im Buch der Makkabäer ist dieses Motiv erstmals voll ausgebildet. Die christlichen Märtyrergeschichten sind deutlich im selben Kontext wie die ersten Makkabäerbücher verfaßt.

Dieses ist ein „edles“ Motiv, im Gegensatz zu den folgenden fünf.

2. Mit der Einführung des Märtyrer-Mythos wurde dem Feind (d.h. den Heiden) die Schuld zugeschoben, den ideologischen Krieg begonnen zu haben. Das ist offensichtlich ein Unding, da ja die Religion Roms gar nicht definiert war und die Begrenzung auf den Kaiserkult ebenfalls kirchlich erfunden ist. Die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, die die Römer an friedliebenden wehrlosen Christen begingen, schreien zum Himmel und entehren die heidnische Religion. Dies ist ein verleumderisches Motiv.

3. Die Märtyrer können als Vorwand, ja Handhabe und Rechtfertigung für eine entsprechende Behandlung des Gegners dienen, nachdem man sich durchgesetzt hat: Hexenprozesse oder die Verbrennung von Lehrern wie Giordano Bruno durch die Kirche werden als Normalfall akzeptiert, wenn man damit vertraut ist, daß in der Entstehungsgeschichte der Kirche viele hunderttausend Menschen auf ähnliche Weise umgebracht wurden.

Das ist ein machtpolitisches Instrument.

4. Mit der Erfindung- der Hunderttausende von Märtyrern wird Geschichte vorgegaukelt, und zwar Kirchengeschichte. Ein einzelner „Blutzeuge“ wäre wenig wert. Aber die unübersehbare Menge christlicher Glaubenseiferer, die sich willig hinschlachten ließen, dienen als „Beweis“ dafür, daß es damals eine sehr große Volkskirche gab, die noch viel mehr Menschen zur Verfügung hatte und nicht auszurotten war. Ihre Geschichtlichkeit wird damit zur Tatsache.
Dieses Motiv verschafft Ansehen – denn hohes Alter ist stets ehrwürdig – und ist heute unwiderlegbar geworden.

5. Mit den Gebeinen der ermordeten Christen konnte ein ausgedehnter Reliquienkult getrieben werden. Das Bedürfnis danach muß im Volk vorhanden gewesen sein, es wurde nur in neue Bahnen gelenkt und schamlos ausgenutzt. Reliquienverehrung wurde zu einem wichtigen Wirtschaftszweig des Mittelalters.
Dieses Motiv entblößt die Geldgier der Kirche.

6. Die im Himmel versammelten Märtyrer wurden zu einer großen Mitstreitermacht ausgebaut, ihre Fürbitte wurde auch für die Lebenden unverzichtbar. Es entstand ein geistiges Arsenal, stets einsatzbereit und manipulierbar, das nicht nur Geld und Gut einbrachte, sondern auch geistige Überlegenheit.
Ich möchte dieses Motiv modern gesprochen als psychologische Kriegsführung bezeichnen.

Die Beweggründe für die kirchliche Geschichtsschreibung waren also von dieser ideellen Art, sie waren von klugem Verstand und weitblickender Absicht getragen.

Im Gegensatz dazu steht die offizielle Lehre, daß die Mönche in den mittelalterlichen Klöstern – also von Augustin und Cassiodor bis zu den ersten schöpferischen Dichtern der italienischen Renaissance, Petrarca und Dante und Boccaccio – nur das geistige Gut der Antike und der Kirchenväter abgeschrieben hätten, um es über die Generationen hinweg zu bewahren, ohne selbst sich von den darin enthaltenen Gedanken zu eigenen Schöpfungen bewegen zu lassen.

Ich halte das für psychologisch undenkbar und behaupte mit Kammeier: Die Niederschrift der antiken Literatur durch unsere Mönche ist ein schöpferischer Vorgang gewesen, der sowohl in seiner Gewalt wie auch in den Auswirkungen nirgends seinesgleichen findet.

Bei aller Bewunderung und Kritik dieser theologischen Leistung darf nicht übersehen werden, daß damit auch ein chronologisches Problem aufgetreten ist: Es muß sehr viel weniger Zeit zwischen dem Ende der Antike (dem angeblichen Ende originaler schriftstellerischer Tätigkeit) und der Renaissance (ihrer Wiedergeburt) liegen; d.h. das angebliche Jahrtausend zwischen Augustin und Dante, das selbst den Humanisten schon als 700 Jahrspanne vorkam, muß sehr viel kürzer gewesen sein, sonst wird die unfruchtbare Zeit zu einem Monstrum und völlig unerklärbar.

An einigen Bauten – ich nehme als Beispiel gern den Dom zu Syrakus, der durch die Normannen direkt in einem noch brauchbaren klassischen Tempel errichtet wurde – oder auch an Mosaiken – hier wähle ich gern Ravenna und Palermo – läßt sich kunsthistorisch zweifelsfrei erkennen, daß zwischen der Antike und dern Christentum ein fast bruchloser Übergang verläuft, und zwar im 12. und 13. Jh.

Dieser Wandel ist in ganz Europa, besonders schön auch im westgotischen Spanien, festzustellen; er betrifft eben die von Kammeier und seinen Vorläufern erkannte Entstehung des Christentums im Hochmittelalter. Insofern hat die Kirche zwar Recht mit der Darstellung, dieses Christentum sei in kurzer Zeit – weniger als 300 Jahren – aus der Antike entstanden, nur muß dieser Vorgang, um glaubwürdig zu werden, im 11. bis 14. Jh. vor sich gegangen sein.

Der mittelalterliche Mystiker Dionysius
Für eine derartige Verschiebung des Zeitstrahls kann ich zahlreiche Beispiele anführen, hier möchte ich den berühmten Mystiker Dionysius Areopagita betrachten, dessen Schriften auf das christliche Abendland eine nur noch mit Aristoteles und Augustin vegleichbare Wirkung ausgeübt haben. Er gehört also zu den drei wichtigsten Schriftstellem des christlichen Abendlandes. Dieser Dionysius wird in der Apostelgeschichte (17.34) erwähnt, war demnach Zeitgenosse Jesu und seiner Jünger. In Athen wurde er von Paulus zum Christentum bekehrt. Zum Bischof von Athen aufgestiegen konnte ihm natürlich nichts besseres passieren, als zum Märtyrer für die junge Kirche zu werden.
Die Schriften, die ihm die Kirche zuschreibt, sind aber selbst nach Meinung moderner Theologen erst um 500 in Palästina entstanden, denn in ihnen werden Plotin und Proklos verarbeitet.

Christliche Lehre und neuplatonische Spekulationen vermischen sich zu einem gnostischen Brei, der erst von dem Schotten Eriugena wieder aufgegriffen wird, indem er ihn angeblich ins Lateinische übersetzte (man lese hierzu Sigrid Hunke). Der Ketzer Eriugena wird durch katholische Chronologie auf 877 angesetzt, lebte aber frühestens im 12. Jh. und ist Miturheber dieser Gedankenwelt. Da springt die Kirche also zuerst über 800 Jahre, dann noch 300 Jahre weiter, wenn man die Fehler korrigiert.

Andererseits soll aber schon Abt Hilduin von Sankt Denis (d.i. Paris) urn 823, also ein halbes Jahrhundert vor Eriugena, das erste vollständige lateinische Gesamtwerk des Areopagiten hergestellt und schlauerweise diesen Mann als Bischof Denis, der angeblich um 250 das erste französische Kloster geweiht habe, identifiziert haben.
So wurde der Jünger des Paulus und erste Bischof von Athen zum Gründer der französischen Mönche und zum Nationalheiligen von Frankreich, mit einem Abstand von 200 Jahren.

Wir haben also nun drei zeitlich verschieden eingeordnete Personen, die als Dionysius Areopagita in der Kirche im Umlauf sind. Wer dessen Bücher wirklich schrieb, ist aber aus ihrem Inhalt durchaus erschließbar.
Da dieser Inhalt der Kirche zeitweise mißfiel, schob man als Urheber zunächst einen Ketzer namens Apollinar aus dem 4. Jh. vor, was spanische Jesuiten noch im 17. Jh. besonders günstig fanden. Aber schon Lorenzo de Valla – der berühmte Humanist, der die Konstantinische Schenkung als Fälschung aufdeckte – hatte 1457 die Widersprüche angeprangert: Kein Lateiner vor dem großen Gregor und kein griechischer Kirchenvater kannte diesen Dionysius.
Zusätzlich wurde dessen Behauptung, fern von Palästina die Sonnenfinsternis beim Tode Jesu gesehen zu haben, damals durch astronomische Rückberechnung als Lüge entlarvt.

Was nun die Manuskripte anbetrifft, so erkennen wir hier das typische Vorgehen der Großen Aktion: Es gibt eine große Zahl von Handschriften, angeblich 150 griechische, der größere Teil sei sogar vollständig erhalten.
Aber – alle sind gleichzeitig bekannt geworden und keine Abschrift zeigt eine spätere Bearbeitung. Und die in dem Werk des Dionysius genannten anderen Schriften hat es nie gegeben. Soviel erkennen die Akademiker und Theologen selbst, ohne sich darüber Sorgen zu machen.

Da ich in meinen Büchem schon gezeigt hatte, daß Augustin eine recht späte Erfindung des christlichen Abendlandes ist, – was ich jetzt hier nicht wiederholen kann – ergibt sich zwangsläufig, daß auch dieser Dionysius frühestens im 13. Jh. gelebt haben wird. Ich kann das auch in diesem Fall vom Inhalt her nachweisen.

Eine Textprobe des Dionysius überführt ihn sofort: Seine mystischen Ergüsse sind typisch sufisch. Das hatte Asin Palacios, der spanische Theologe und Orientalist, schon 1931 erkannt. Die Schriften des Dionysius stammen über weite Strecken vom Größten Meister, von Ibn el Arabi, dem andalusischen Sufi im 13. Jh..
Nicht nur sinngemäß, sondern bis in die einzelnen Ausdrücke hinein ist die Ideenwelt der Sufis in den Schriften des Dionysius enthalten. Und darüberhinaus beschreiben beide – was sonst selten ist – die Frau als erotisches Erlebnis der Gottheit.

Das ist nicht willkürlich zu allen Zeiten zu erwarten, das ist ein Sonderfall, der sogleich Rückschlüsse erlaubt: Wir befinden uns im höfischen Hochmittelalter, nicht in der Zeit Jesu.

Jede Zeitepoche trägt ihren ganz eigenen Geist. Der aus den Schriften des Dionysius wehende Geist gehört zu den himmelstrebenden gotischen Domen, gehört zur Verarbeitung und Eingemeindung der arabischen Welt und zur Entstehung der ersten Nationalkirche in Frankreich. Dionysius kann nur im 13. Jh., als man ihn begeistert las und diskutierte, geschrieben haben.

Wenn die kirchlichen Einstufungen diesen Theologen zuerst ins 1. Jh. legten, dann ins 3. Jh., auch ins 5. und sogar 9. Jh., dann bleibt nur die Feststellung, daß mit diesen Machenschaften eigentlich jeder Heilige und Märtyrer fast beliebig in der Geschichte herumgeschoben werden kann.

Um anzudeuten, daß ich das nicht alles nur allein behaupte, will ich einen populären Geschichtsphilosophen erwähnen, den ich kürzlich las: Hans Mühlestein, der den zwangsläufig inneren Zusammenhang zwischen den alten Etruskern und der Bewegung der Bogomilen herausgearbeitet hat, freilich ohne den Zeitgraben von anderthalb Jahrtausenden, der dazwischen klafft, überbrücken zu können.

Natürlich kann man es da halten wie Oswald Spengler in seinem „Untergang des Abendlandes“, wo er seine Erkenntnisse über den inneren Zusammenhalt geschichtlicher Geistesströmungen mit vollkommener Sicherheit vorträgt und Jahrhunderte mit Leichtigkeit überspringt, ohne als Rechtfertigung eine neue Chronologie vorlegen zu wollen. Wer aber die künstliche Arbeit der großen Chronologen des 16. und 17. Jahrhunderts, Scaliger, Petau und Newton, kritisch geprüft und die Unhaltbarkeit dieses Gerüstes vor Augen hat, wird auch diesen Schritt vorantun müssen und unsere Zeittafeln als unrealistisch verwerfen.

Die Erfindung der Chronologie
Zu diesem Punkt kann ich hier nur einige Hinweise geben, da dieses komplexe Thema einen eigenen Vortrag ausmachen würden:
An einer einheitlichen Zeittafel, die Antike, Christentum und Neuzeit miteinander verbindet, haben zahlreiche mittelalterliche Gelehrte gearbeitet, aber erst seit etwa 1450 schält sich so etwas wie eine gemeinsame Abmachung heraus, die als Grundlage benützt werden konnte.
Diese noch reichlich fabulierte Chronologie wurde dann schrittweise durch die genannten großen Chronologen, vor allem also Scaliger und Newton, mit angeblich wissenschaftlichen Beweisen zur Norm erhoben, wobei sich Scaligers System gegenüber dem um mehrere Jahrhunderte anders kalkulierenden Newtonschen Entwurf durchsetzte, weil Petau es verbessert hatte.
Grundlage für Scaliger war eine Olympionikenliste, die den Zeitraum von glatt 1000 Jahren dokumentieren sollte und von seinem Freund Casaubonus in Paris zu diesem Zweck erfunden worden war.
Newtons Grundlage war zwar ehrenhafter, aber dennoch nach heutigen Maßstäben völlig wertlos: eine sagenhafte Angabe über den Frühlingspunkt zur Zeit der Argonautenfahrt ergab für ihn rechnerisch den gewünschten Zeitabstand, der die biblischen Generationenregister als die älteren und damit besseren hinstellte; denn dem sehr religiösen Newton ging es hauptsächlich darum, das hohe Alter der jüdischen Erzväter zu bestätigen.
Wenn man auch heute weiß, wie hinterlistig und dumm diese Zeittafeln aufgestellt sind, macht sich doch kaum jemand die Mühe, sie einmal kritisch zu untersuchen oder gar durch realistischere Berechnungen zu ersetzen. Diese Aufgabe hat sich die Gruppe der Zeitrekonstrukteure gestellt.
Die Katastrophe
Es bleibt nun dennoch eine Frage übrig, die ein neues Problem aufzeigt, das nur zu gern verschwiegen wird.

Wenn dieser ganze Vorgang der fälschenden Geschichtsneuschreibung, wie ihn Hardouin und Kammeier und viele andere Geschichtskritiker angeprangert haben, erst seit Beginn des 15. Jh. abgelaufen ist, dann muß davor etwas Ungeheuerliches, ein katastrophales Ereignis, stattgefunden haben, das alles vorhandene Wissen dermaßen auslöschte, daß eine falsche Neuschöpfung möglich war.
Gewiß mag die Vernichtung der Wissenden durch Ketzerprozesse und die Zerstörung der Bücher und Dokumente durch die Inquisition als Erklärung herangezogen werden.
Außerdem müssen wir die Pest als verheerenden Faktor einbeziehen, besonders jenen ersten Ausbruch ab 1348, der in Europa vor allem die Stadtbevölkerung drastisch verringerte und damit das geistige Leben um mehrere Schritte zurückwarf.
Dennoch reichen mir diese Erklärungen nicht aus, denn es müßte immer noch ein Rest geblieben sein, der auch den einfältigsten Humanisten den wahren Sachverhalt klargemacht hätte, viel mehr noch den großen Aufklärern des Barock, die gewiß keine Mühe gescheut hätten, die ganze erlogene Historie zu verwerfen.

Warum mußte Papst Martin (V) ab 1417 Ausgrabungen vornehmen lassen, um das antike Rom sichtbar zu machen? Warum lagen die klassischen Bauten unter meterhohem Schutt? Wie kommt es, daß die Fälscher so leichtes Spiel hatten?

Wenn die enorme Zeitspanne, die durch die Kirche als Erklärung vorgebracht wurde, nun mit unserer neuen Hypothese hinfällig wird, dann handelt es sich nicht mehr um den Schutt der Jahrhunderte, sondern um eine gewaltige Zerstörung, um Katastrophen von enormen Ausmaßen, die zwischen der so nahen Antike und der modernen Zeit liegen.

Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius (II), schrieb anläßlich seiner Reise zum Konzil von Basel 1432, daß diese (ehemals römische) Stadt durch dicht aufeinander folgende Erdbeben von Grund auf zerstört worden sei und ein völlig neues Aussehen habe, wie aus einem Guß erbaut, ohne jegliche Altertümer.
Das hat sich dieser scharfe Geist bestimmt nicht ausgedacht, nur den Zeitpunkt, den er für die Katastrophe angibt, nimmt er aus einer Zeittafel, die mit unserer noch nicht vergleichbar ist. Er sagt, dieses Unglück sei der Stadt Basel im Jahre 800 zugestoßen. Für unsere heutige Rechnung wäre das 632 Jahre vor Piccolominis Reise.
Nach einem so langen Zeitraum soll die Stadt immer noch ohne jegliche Altertümer und wie aus einem Guß neu erbaut ausgesehen haben? Vermutlich lag das schicksalschwere Jahr 800 (eine runde Zahl, die mit der Weltuntergangshysterie der damaligen Cleriker zusammenhing) nur ein oder zwei Generationen vor dem Konzil von Basel.

Die seit etwa zwei Jahrzehnten tätige Gruppe der Geschichtskritiker, die auch den fast vergessenen Kammeier wieder zu Ehren brachte, spricht wegen der Häufung der Katastrophenberichte in den Jahren um 1350 von einem „Bisher letzten großen Ruck“ im Sonnensystem. Ohne Katastrophe und damit verbundenem Unverständnis der Vergangenheit ist weder eine Neuschöpfung der literarischen Antike noch eine künstliche Vergrößerung des Zeitabstandes psychologisch erklärbar.

Gerade über dieses Ereignis – sowohl den Zeitpunkt als auch die Ursachen der Katastrophe – ist jedoch praktisch nichts bekannt.

Egon Friedell hat vor 70 Jahren versucht, den Pestausbruch ab 1348 als unmittelbare Folge einer kosmischen Katastrophe hinzustellen. Das ist bis heute die einfachste Lösung des Problems, was nicht bedeutet, daß es die richtige Lösung wäre. Die Vernichtung der Kenntnis dieser Katastrophe ist geradezu vorbildlich und wirkt bis heute nach. Wer darüber auch nur andeutungsweise spricht, ist in akademischen Kreisen erledigt.

Man beginnt an den Universitäten gerade erst die Katastrophe der Endkreidezeit, also die Vernichtung der Saurier durch ein kosmisches Ereignis vor 60 Millionen Jahren, als Diskussionsmöglichkeit zuzulassen. Näherliegende Vorkommnisse wie das Eiszeit-Ende sind noch nicht universitätswürdig.

Bliebe also die Frage, warum die Katastrophe vertuscht wurde mit dem enormen Aufwand einer Geschichtsschöpfung fast aus dem Nichts.

Die Antwort auf diese alles bewegende Grundfrage liegt in der Erfindung eines christlichen Gottes, der „gnädig“ statt schicksalshaft und „gerecht“ statt willkürlich in die biologische Schicht auf dem erkalteten Planeten Erde eingreift – eine völlig wahnwitzige, absolut unwissenschaftliche und gegen jede Erfahrung gerichtete Schutzerfindung der Menschen, wie sie vor allem direkt nach einer Katastrophe aufgebracht werden mußte. Dieser neugeschaffene christliche Versöhnergott war die einzige Garantie gegen den sehenden Wahnsinn der Ritter, die immer noch zu Recht fürchteten, daß ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könne.

Den verheerenden Kometen und den Sprüngen in der Erdkruste, die ganze Kontinente zerstückelten, der Pest und den Heuschreckenschwärmen, die weit jenseits jeder Beeinflußbarkeit liegen, konnte nur ein extrem gütiger Universalgott mit väterlichen Liebeseigenschaften entgegengestellt werden, wollte man nicht dem krassesten Nihilismus ausgeliefert sein. So mußte vor allem die jüngste Katastrophe aus dem Gedächtnis gelöscht werden.
Dieses Ziel hat die katholisch geleitete „Große Aktion“ angesteuert und – rückwärtig betrachtet – auch mit außergewöhnlichem Erfolg fast bis heute erreicht.

Zahlreiche Menschen, die das Gegenteil wußten und weitergaben, mußten darum ihr Leben lassen. Die Hexenverfolgungen spielten sich vor diesem Hintergrund ab. Wer ein offenes Universum sah und Chaos statt Ordnung, wurde verbrannt.

In den Streitschriften des 15. Jahrhunderts ist das Problem noch offenkundig. Die Papstgünstlinge Nikolaus Cusanus und Johannes Regiomontanus verfochten mit großer Schärfe die These, daß die Planetenbahnen stabil seien und keineswegs von Zeit zu Zeit abweichen und dadurch Unheil verursachen könnten. Das aber muß wohl behauptet worden sein.
Wie auch sonst – etwa aus den Anti-Ketzerschriften der Kirchenväter – spürt man hier nur aus den erhalten gebliebenen Gegenschriften, was bekämpft werden sollte. Die naturwissenschafilichen Erkenntnisse, die aus den Katastrophen gezogen worden waren, sind verloren, sind vernichtet.

Bei der kirchlichen Aktion handelt es sich demnach tatsächlich um eine gelungene Vergangenheitsbewältigung, die jene früher recht häufig auftretende Weltuntergangshysterie verhindem soll.
Es gab ja durchaus andere religiöse Formen, die jenes Urtrauma, die kosmischen Katastrophen, verdrängen oder überlagern sollten. Ich denke an die maßlosen Menschenopfer der Azteken, die vermutlich erst 100 oder 150 Jahre vor der Christianisierung Mexikos begonnen hatten, also nach 1350.

Mit dem heutigen hohen Stand der Wissenschaft sind derartige Zauberhandlungen nicht vereinbar, ebensowenig wie eine Fälschung der Geschichte oder ein Verschweigen der Katastrophen.
In den technologisch führenden Staaten der Erde werden aufwendige Programme entwickelt, die eine zukünftige kosmische Katastrophe vorherberechnen sollen und natürlich denkt man auch an Abwehrmaßnahmen, wobei die Einzelheiten noch der Geheimhaltung unterliegen.

Da Verdrängung eines Traumas stets zu Fehlhandlungen führt, halte ich es für an der Zeit, die wahren Ursachen der Großen Aktion aufzudecken und durch das Verständnis unserer Geschichte zu einem rationaleren Umgang mit den Menschheitsproblemen zu gelangen.
Literatur
Burckhardt, Jakob (1905): Weltgeschichtliche Betrachtungen (postum)
Curtius, Ernst Robert (1948): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter
(8. Aufl. Bern 1973)
Friedell, Egon (1927-3 1): Kulturgeschichte der Neuzeit (München)
Gundolf (Gundelfinger), Friedrich (1904): Cäsar in der deutschen Litteratur (Diss., Berlin)
(1921): Dichter und Helden (Heidelberg)
(1992): Anfänge deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann (mit Nachwort von Ulrich Raulff; Frankfurt/M)
Hunke, Sigrid (1997) : Europas eigene Religion (Tübingen)
Mühlestein, Hans (1957): Die verhüllten Götter (München)
Spengler, Oswald (1923): Der Untergang des Abendlandes (München)
Topper, Uwe (1977): Das Erbe der Giganten( Olten)
(1982): Sufis und Heilige im Maghreb (Köln)
(1993): Das letzte Buch. Die Bedeutung der Offenbarung des Johannes in unserer Zeit (München)
(1998): Die „Große Aktion“. Europas erfundene Geschichte (Tübingen)
(1999): Erfundene Geschichte. Unsere Zeitrechnung ist falsch (München)
(2001): Fälschungen der Geschichte. Von Persephone bis Newtons Zeitrechnung (München)
(2003): ZeitFälschung. Es begann mit der Renaissance (München)
„Zeitensprünge“, vormals „VFG“, Vierteljahreszeitschrift seit 1989, Hrg. H. Illig und G. Heinsohn (Gräfelfing)

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